Der Kampf um Stuttgart 21
Ein Rückblick auf die Entwicklung des Widerstands 2010
Stuttgart 21 ist ein Immobilien- und ein Verkehrsprojekt, das den Eisenbahnknoten Stuttgart quer zum bisherigen Kopfbahnhof unter die Erde bringt. Auf dem frei werdenden Gelände – rund 100 Hektar – soll eine neue City entstehen. Vermutetes Investitionsvolumen: zehn Milliarden Euro. Das größte geplante Immobilienprojekt in Europa.
Neben dem achtgleisigen unterirdische Durchgangsbahnhof – der Kopfbahnhof hat 16 Gleise – sollen auf über 30 Kilometern Zulaufstrecken unter der Erde verlegt und drei neue Bahnhöfe gebaut werden, der Filderbahnhof am Flughafen, der Abstellbahnhof in Stuttgart-Untertürkheim und die S-Bahn-Station Mittnachtstraße. Außerdem ist eine Neubaustrecke nach Ulm geplant. Die Kostenschätzungen gehen weit auseinander. Während die Projektträger von 4,1 Milliarden Euro für Stuttgart 21 sowie 2.9 Milliarden Euro für die Neubaustrecke nach Ulm ausgehen, schätzen Kritiker die Gesamtkosten auf weit mehr als zehn Milliarden, manche sogar auf bis zu 20 Milliarden Euro.
Projektträger sind neben der Deutschen Bahn, die Bundesrepublik Deutschland, das Land Baden-Württemberg, der Verband Region Stuttgart, die Stadt Stuttgart und die Flughafen Stuttgart GmbH.
Die Kritiker wollen den Kopfbahnhof für weit weniger Geld modernisieren. 2010 haben sie mindestens einmal pro Woche – jeweils montags – demonstriert. Die ersten Montagsdemos fanden Im November 2009 statt. Zeitweise wurde dreimal in der Woche demonstriert. Ein Höhepunkt der Bewegung war ein Demonstrationszug auf dem City-Ring Anfang Oktober, an dem über 100.000 Menschen teilgenommen hatten.
Zum offiziellen Baubeginn am 2. Februar 2010 wurde in Anwesenheit von Bahn-Chef Rüdiger Grube, Verkehrsminister Peter Ramsauer, Ministerpräsident Günther Oettinger und Oberbürgermeister Wolfgang Schuster symbolisch ein Prellbock auf dem Gleisvorfeld entfernt. Rund 2.000 Projektgegner protestierten deshalb in der Bahnhofshalle.
Am 26. Juli 2010 besetzten etwa 50 Personen während einer Montagsdemo den bereits leer stehenden Nordflügel des Hauptbahnhofs. Unter den Besetzern war auch Stadtrat Hannes Rockenbauch (Parteifreies Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial). Am späten Abend wurde das Gebäude geräumt.
Seit dem 28. Juli 2010 protestieren viele Menschen an verschiedenen Orten jeweils um 19 Uhr eine Minute lang gegen Stuttgart 21 indem sie viel Krach machen – eine Idee des Schauspielers Walter Sittler und des Theaterregisseurs Volker Lösch, die die Aktion Schwabenstreich nannten. Siehe Interview mit den beiden auf der DVD „Stuttgart steht auf“.
Am Abend des 30. Juli 2010 begannen die Vorbereitungen für den Abriss des Nordflügels, als unter Polizeischutz ein Bauzaun errichtet werden sollte. Durch eine Alarmkette benachrichtigt kamen etwa 2.000 Projektgegner, die dagegen mit Sitzblockaden protestierten. Unter den Blockierern, die von der Polizei weggetragen wurden, waren auch die Stadträte Werner Wölfle (Bündnis 90/Die Grünen) und Hannes Rockenbauch sowie Axel Wieland, der Vorsitzende des BUND in der Region Stuttgart.
Mit Dauermahnwachen vor dem Nordflügel des Bahnhofs und weiteren Aktionen im benachbarten Schlossgarten versuchten die Projektgegner den Abriss des Nordflügels und das Fällen alter Parkbäume zu verhindern. Laut ursprünglicher Planung sollen rund um den Bahnhof 282 zum Teil sehr alte Parkbäume entfernt werden.
Ein Baumhaus von Aktivisten der Umweltorganisation Robin Wood wurde in der Nacht zum 7. September 2010 von der Polizei geräumt. Blockierer wie Thomas Renkenberger versuchten, dies zu verhindern. Am 17. September wurden erneut vier Bäume mit Baumhäusern besetzt.
Um den Tunnelbahnhof bauen zu können, muss das Grundwasser stark abgesenkt werden. Dafür sind größere Bauten und viele Kilometer lange Leitungssysteme erforderlich. Das Hauptgebäude des künftigen Grundwassermanagements sollte auf dem Gelände des Schlossgartens in der Nähe des Bahnhof-Südflügels errichtet werden.
Mit einem brutalen Polizeieinsatz wurde das Gelände im Laufe des 30. Septembers von baden-württembergischen Polizeieinheiten, Einheiten aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie der Bundespolizei geräumt. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Wasserwerfer und Pfefferspray ein. Nach Angaben von Bürgerinitiative und Parkschützern wurden über 400 Personen verletzt, darunter auch Schüler und Rentner. Vier Demonstranten mussten im Krankenhaus stationär behandelt werden. Dietrich Wagner, den ein Wasserwerferstrahl frontal in die Augen traf, wurde so schwer verletzt, dass er auf einem Auge dauerhaft erblindete und auf dem anderen nur noch 20 Prozent der bisherigen Sehkraft hat. Der 30. September wird seither als „schwarzer Donnerstag“ bezeichnet.
Die Grünen im baden-württembergischen Landtag brachten den ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler als Vermittler Gespräch. Ministerpräsident Stefan Mappus, dessen Rücktritt nach dem Polizeieinsatz im Schlossgarten immer wieder lautstark gefordert wurde, stimmte dem Vorschlag zu.
Am 15. Oktober 2010 fand unter der Leitung von Heiner Geißler ein erstes Gespräch zwischen Vertretern von Projektbefürwortern und -gegnern statt. Beide Seiten verständigten sich auf eine öffentliche Fortführung der Gespräche. Die Parkschützer stiegen aus der Vermittlung aus, da ein vollständiger Baustopp nicht erreicht wurde.
Im Anschluss an eine Großdemonstration am folgenden Samstag besetzten etwa 35 Menschen den Südflügel des Bahnhofs. Nach weit über einer Stunde räumte die Polizei das Gebäude.
Nach der Montagsdemo am Abend des 25. Oktober fuhren mehrere hundert Demonstranten in einem Sonderzug nach Berlin, um ihren Protest in die Bundeshauptstadt zu tragen.
In der Zeit der Schlichtung kletterten einige Parkschützer und Mitglieder von Robin Wood über den Zaun, um auf das Baugelände zu gelangen, auf dem das zentrale Gebäude für das Wassermanagement entstehen soll. Sie pflanzen dort, wo in der Nacht zum 1. Oktober 25 Bäume gefällt wurden, neue Bäume.
Die Vermittlungsgespräche im Stuttgarter Rathaus begannen am 22. Oktober 2010 und endeten nach acht Terminen am 30. November. Sie wurden live in Fernsehen, Radio und über Flügel-TV im Internet übertragen. Ebenso wurden Mitschriften der Schlichtung veröffentlicht.
Teilnehmende Projektbefürworter waren
Teilnehmende Projektgegner waren
Werner Wölfle, Stadtrat, Mitglied des Landtags und verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Siehe Interview auf der DVD „Stuttgart steht auf“.
Am 30. November 2010 verkündete Heiner Geißler das Konzept „Stuttgart 21 Plus“, den Weiterbau des Tiefbahnhofs mit Nachbesserungen und verlangte einen „Stresstest“. Dabei soll die Bahn nachweisen, dass die Kapazitäten des Tunnel-Bahnknotens 30 Prozent über denen des jetzigen Bahnhofs liegen.
Hermann G. Abmayr
Angst vor dem eigenen Volk
Der Aufstand im Stuttgarter Talkessel hat die „politische Klasse“ kalt erwischt
Der Aufstand im Stuttgarter Talkessel hat die „politische Klasse“ in Deutschland erschüttert. Der Kampf gegen „Stuttgart 21“ sei gar eine Auseinandersetzung von europäischem Ausmaß, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Vorwurf der herrschenden Politik: Wenn das Beispiel Schule mache, wenn die Bürger ein bereits beschlossenes Projekt zu Fall brächten, dann drohe eine „Dagegen-Republik“. Das „Volk der Widerborste“ würden das System gefährden. Es gehe um einen „Lackmustest für die repräsentative Demokratie“. Die Bürger seien „auf den Geschmack gekommen“, schrieb Dieter Kümmel in der Zeit. Die Stadt Stuttgart kenne ihn nun, „den Duft der Rebellion“. Aus der biederen Hauptstadt der Kurzarbeit – 2009 in Folge der Weltwirtschaftskrise – wurde eine phantasievolle Protesthauptstadt.
Die Kanzlerin hat deshalb bei ihrer Haushaltsrede Mitte September 2010 eine neue Stufe des Kampfes für „Stuttgart 21“ eingeläutet. Aus Sicht der Regierung durchaus konsequent, auch wenn einige journalistische Beobachter überrascht waren. Merkel habe das Milliarden-Projekt zum „Siegel des schwarz-gelben Gestaltungswillens“ gemacht, kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Kanzlerin habe den Konflikt „gewissermaßen zur Staatsaffäre erklärt“, analysierte Armin Käfer in der Stuttgarter Zeitung. Schließlich gehe es nicht nur um das größte Infrastrukturprojekt Europas, sondern auch „um die Legitimität parlamentarischer Entscheidungen, um die Selbstlähmung eines Landes das von Technologieexport lebt und dessen wirtschaftliches Wohlergehen einer funktionierenden Infrastruktur bedarf“.
Nur wenige Tage später verriet die Kanzlerin bei einer Veranstaltung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) in Berlin, warum ihr eine Niederlage der Aufständischen im Südwesten so wichtig ist. „Wenn dieses Projekt nicht realisiert wird, dann würde es dazu kommen, dass wir als nicht mehr verlässlich gelten“, sagte Merkel. Wenn sie einmal als Bundeskanzlerin gegenüber anderen europäischen Spitzenpolitikern einräumen müsse, dass Deutschland aufgrund von vielen Protesten seine Zusagen nicht mehr einhalten könne, dann käme „morgen mein griechischer Kollege und sagt: ‚Weil bei uns so viel protestiert wurde, kann ich die Stabilitätszusagen nicht mehr einhalten’.“
Ähnlich argumentierte Dirk Kurbjuweit, der einflussreiche Leiter des Hauptstadtbüros des Spiegels, in einem Essay mit dem Titel „Der Wutbürger“ (41/2010): „Die nächste Moderne wird von chinesischem Tempo und chinesischen Dimensionen bestimmt werden. Deutschland muss und sollte das nicht alles mitmachen, aber es muss und sollte Anschluss halten und nicht wütend das Überkommene verteidigen.“ Während das Volk in Stuttgart „ein bisschen Schweiz“ fordert, also mehr direkte Demokratie, will die Mehrheit der politischen und wirtschaftlichen Elite „ein bisschen China“.
Die Herrschenden haben Angst vor dem Volk bekommen, das in Stuttgart den größten außerparlamentarischen Protest seit vielen Jahren organisiert hat. Aus einer kleinen Gruppe aktiver Stuttgart-21-Gegner, die im Herbst 2009 mit Montagsdemonstrationen vor dem Hauptbahnhof begonnen hatten, ist eine Massenbewegung geworden, die alle Schichten und Altersgruppen der Stadt erfasst hat. Ab Sommer 2010 wuchs die Zahl der Demonstrationen, die Zahl der Teilnehmer und die Vielfalt des oft phantasievollen Widerstandes, der zunehmend ansteckend wirkte. Plötzlich wurde der Stuttgarter Talkessel interessanter als der Urlaubsort am Mittelmeer.
„Stuttgart 21“ ist zum Katalysator einer neuen sozialen Bewegung geworden. Der Protest hätte auch in einer anderen Stadt aufflammen können, nur fehlte da das passende Objekt. Denn „Stuttgart 21“ kann gestoppt werden, Milliarden schwere Entscheidungen in Folge der Finanzkrise sind dagegen schwer fassbar; auch fielen sie meist innerhalb weniger Tage und hinter verschlossenen Türen.
Nach den Jahren der Privatisierung kam die kurze, aber umso intensivere Phase der Sozialisierung der Verluste. Der Unmut der Bürger richtet sich inzwischen gegen eine Politik, die Volksvermögen wie die Strom- und Wasserversorgung (Stichwort Cross-Border-Leasing) an große Konzerne verkauft hatte und die Bahn weiterhin an die Börse bringen will. Andererseits wird den Regierenden vorgeworfen, nicht einmal in der Lage zu sein, gute Schulbildung anzubieten. Und dies selbst in einem vergleichsweise reichen Bundesland wie Baden-Württemberg.
Der Protest gegen „Stuttgart 21“ hat sich so zunehmend zu einem Kampf gegen die als sinnlos empfundene Verschleuderung von Steuermilliarden entwickelt. Und er richtet sich gegen die Arroganz der (parlamentarisch legitimierten) Macht. Die Bürger sind selbstbewusster geworden; sie bestehen darauf, dass sie der Souverän im Lande sind.
Hermann G. Abmayr
Quelle:
Stuttgart 21 oder wem gehört die Stadt
Herausgeber Volker Lösch, Gangolf Stocker, Sabine Leidig und Winfried Wolf Dezember 2010
ISBN 978-3-89438-450-0
Der Text wurde leicht gekürzt.